von Rodion Farjon 2. Juli 2025
Kirmes Für den Abend war eine gemeinsame Runde über den Jahrmarkt geplant. Das befreundete Paar hatte aber abgesagt. Die kleine Tochter war krank und die Eltern wollten die vorgesehene Betreuung nicht mit dem Kind allein lassen. Somit hatten sie entschieden, zu Hause zu bleiben. Sie hatten viel Spaß gewünscht und wollten sich mit ihnen treffen, sobald die Kleine wieder gesund sei. Deshalb beschlossen sie beide, ohne ihre Gesellschaft zur Kirmes zu gehen. Es würde frisch werden, möglicherweise sogar etwas regnen. Deshalb nahmen sie eine Jacke mit, auch wenn das lästig war. Solange es warm und trocken war, brauchten sie keine, weshalb sie sie in der Hand mittragen mussten. Sie hatte am Tag zuvor schon Kleingeld und Scheine besorgt. Der Abend würde einiges kosten. Aber es war nur einmal im Jahr Markt. Sie legten den Weg zum Festgelände zu Fuß zurück. Nach einer guten Viertelstunde waren sie an einem der Zugänge. Schon beim Eingang war das Gedränge groß. Sie schlenderten an einigen Buden mit Speiseangeboten vorbei. Der Anblick und der Duft waren verlockend, aber vorher wollten sie ein paar Fahrgeschäfte ausprobieren. Als erstes wählten sie ein traditionelles Kettenkarussell. Sie konnten zwei Sitze nebeneinander einnehmen, was der Spaß erhöhte. Diese Fahrt war schon zur Tradition geworden. Erinnerungen an ihre Jugendzeit spielten dabei eine große Rolle. Das erste Mal war eine Mutprobe gewesen. Das damals überwältigende Gefühl von Geschwindigkeit, die Erfahrung, fast freischwebend durch die Zentrifugalkraft weit hinausgedrückt zu werden und dabei die Umgebung nur noch als wirbelnde, bunte Masse wahrzunehmen, prägte sich ein. Diese Erinnerung galt es aufzurufen, das Gefühl von Freiheit wieder zu erleben und zu versuchen, die Kette des Sitzes nebenan zu fassen. Es gelang ihnen, den Wirbel, der orientierungslos machte, wieder zu spüren. Das alles war ein guter Auftakt. Nach der Fahrt mussten sie zuerst das Gleichgewicht wiedererlangen. Sie fühlten sich wie Betrunkene. Aber schnell normalisierte sich der Zustand. Vergnügt über den gelungenen Anfang schlenderten sie Hand in Hand weiter, gelegentlich geschubst von fröhlichen Menschen, die sich lachend durch die Menge bewegten. Manche entschuldigten sich und riefen etwas als Bestätigung der positiven Stimmung. Von überall klang Musik, eine wilde Kakofonie, gespickt mit Lautsprecheransagen, die ein Loblied auf das jeweilige Geschäft sangen. Überall blinkten Lichter, leuchteten Pfeile auf und drehten sich Leuchtreklamen. Als nächstes war die Krake dran, ein sich doppelt drehendes Gerät, dessen Arme dabei auch noch hoch und herunter fuhren. In ihrer Jugend war es das Nonplusultra an Geschwindigkeit und Waghalsigkeit gewesen. Jetzt gehörte die Krake zu den simpleren Karussells, mit denen man nicht mehr angeben konnte. Aber die Tradition verlangte auch eine Runde mit diesem Fahrgeschäft und somit stiegen sie ein. Am Ende der Fahrt kletterten sie aus der Gondel und stiegen die wenigen Stufen hinunter. Lachend und leicht schwankend setzten beide den Rundgang über den Platz fort. Als sie beim Stand ankamen, an dem man Dosen abwerfen konnte, wurde auch das ins Programm aufgenommen. Es war schwieriger als gedacht, alle Dosen herunter zu werfen. Er holte mit großem Schwung aus und warf mit hoher Geschwindigkeit, aber nicht ausreichend zielgenau. So gewann er keinen Preis. Sie warf dagegen sorgfältiger, wenn auch weniger schnell, und schaffte es, die Dosen abzuräumen. Der Lohn war eine rote Kunststoffrose, die sie ihm ins Knopfloch heftete. Ein Kuss war sein Dankeschön. Sie schauten sich ein riesiges Fahrgeschäft an, bei der die Insassen der beiden Gondeln an einem langen Arm kopfüber herumgeschleudert wurden. Helle Schreie schallten durch die Luft, wenn die eine Gondel mit großem Tempo hochfuhr und im Zenit fast stehen blieb, bevor die Fahrt mit Schwung hinab ging. Am anderen Ende des Armes spielte sich, um eine halbe Drehung versetzt, die gleiche Szene ab. Für sie beide war das ein paar Nummern zu groß. Sie schüttelte sich und drängte sich an seine Seite, als müsse sie Schutz suchen. Um sie zu necken, sagte er, er würde jetzt zwei Tickets holen. Sie boxte ihn gegen die Schulter und protestierte, wobei sie wusste, dass er das nur sagte, um sie zu ärgern. Die Stimmung war fröhlich und unbeschwert. Nichts trübte die Glückseligkeit der beiden. Der Andrang war an manchen Orten so groß, dass sie warten mussten, bis sie sich durch die Leiber hindurchzwängen konnten. Trotzdem waren alle gut gelaunt. Im Vorbeigehen trafen sie einige bekannte Gesichter. Ein Zuruf vermittelte die Wiedererkennung und einige Worte wurden im Gedränge gewechselt. Sie entschieden sich als nächstes für die Achterbahn. Im Vergleich zu dem modernen Koloss, vor dem sie standen, war das, was sie aus ihrer Jugend in Erinnerung hatten, fast ein Kinderspielzeug. Mit einigem Zittern wagten sie sich an das Experiment, ein paar Loopings zu erleben. Festgeschnallt und mit einem Bügel gesichert, rasten sie wie in einem Projektil über die Gleise. Sie konnten nicht anders als aufzuschreien, so wie fast alle Mitfahrenden. Bei den Loopings bekamen sie ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch und verloren die Orientierung. Die Fahrt endete auf einem geraden Gleisstück, auf dem die Gondeln wie in einem Bahnhof anhielten. Etwas blass um der Nase verließen sie die Achterbahn. Er fragte, ob sie ein zweites Mal mitfahren wollte. Sie lehnte dankend ab. An einem Getränkestand bestellten sie je ein Bier. Auch hier war das Gedränge groß. Es gelang, sich mit den vollen Gläsern einen Weg zu einem Stehtisch zu bahnen. Konversation war nur mit einer größeren Lautstärke möglich. Sie sprachen sowieso nicht ständig, sondern beobachteten, was ringsum geschah. Einige Besucher hatten dem Bier wohl ausgiebiger zugesprochen. Ein Mann schwankte durch die Menge, wurde aber nicht aggressiv und von den Passanten stillschweigend umgangen. Irgendwo außerhalb des Geländes ertönte die Sirene einer Ambulanz. Es liefen auch Rotkreuz-Mitarbeiter Streife, um wenn nötig zu helfen. Während ihr Ehemann sich bemühte, ein zweites Mal Getränke zu ergattern, schaute sie sich um. Ihr Blick fiel auf einen jungen Mann, der einige Tische entfernt stand und sich das Treiben anschaute. Sie schätzte sein Alter auf etwa neunzehn Jahre. Blutjung, dachte sie, fast noch ein Junge. Er hatte dunkles, lockiges Haar, das ungekämmt von seinem Kopf abstand. Eine Locke fiel in seine Stirn. Fasziniert betrachtete sie sein Gesicht. Dunkle Augenbrauen und dunkle Augen, eine gerade, aber nicht zu große Nase, geschwungene Lippen und einen leicht dunkleren Teint als die meisten Umstehenden. Seine Haut war glatt und auf seinen Wangen und Kinn zeichnete sich noch kein dunkler Schatten von einem starken Bartwuchs ab. Er erinnerte sie an einen antiken Jüngling. Erst als er in ihre Richtung blickte, wurde ihr bewusst, dass sie ihn die ganze Zeit angestarrt hatte. Schnell blickte sie nach unten, um dann zu ihrem Mann zu sehen, der es gerade geschafft hatte, zwei Gläser Bier zu erstehen. Er kam zu ihr an den Tisch. Während sie trank, konnte sie den Drang nicht widerstehen, zu dem jungen Mann zu schauen. Aus dem Augenwinkel versuchte sie zu erkennen, ob der in ihre Richtung sah. Gerade als sie es wagen wollte, hinzusehen, drang die Stimme ihres Mannes zu ihr durch. Sie zuckte leicht zusammen. Hatte er das erste Mal etwas zu ihr gesagt oder hatte sie ihn gar nicht erst gehört? Er lächelte sie aber an und fragte, ob sie weitergehen sollten. Sie trank aus. Ihre Gläser brachten sie zum Stand zurück. Nun folgte sie ihm durch die Umstehenden. Sie wagte es nicht, sich noch einmal umzudrehen und hakte sich bei ihrem Mann unter. Sie schüttelte einige Überlegungen von sich ab. Ihr ging die bekannte Frage durch den Kopf, ob Untreue schon beim Gedanken anfängt. Und sogleich fiel ihr ein anderer Spruch ein: Appetit darf man sich anderswo holen, gegessen wird zu Hause. Sie musste grinsen. Wie schnell man auf solche Plattitüden kommt! Und wie viel Lebenserfahrung da doch gleichzeitig drin steckt! Aber dann musste sie sich auf das reale Geschehen konzentrieren. Ihr Mann bahnte ihnen einen Weg durch die Menge und sie musste aufpassen, nicht abgedrängt zu werden. Inzwischen nieselte es ein wenig. Sie zogen ihre Jacken an. Ein Kinderkarussell wurde mit Planen zugedeckt. Das Fahrgeschäft machte zu, da es schon dunkel war und kaum noch Eltern mit Kindern unterwegs waren. Sie schlenderten weiter und hielten vor der Geisterbahn. Er erinnerte sie an das erste Mal, dass er mit ihr hineingegangen war und sie die Gelegenheit genutzt hatten, sich zu umarmen. Sie nutzte damals die Chance, sich als Schutzsuchende geben zu können, während er nur allzu gerne seinen Arm um ihre Schulter legte. Das war einst ein nettes Spiel mit den romantisch-kitschigen Vorstellungen der keuschen Liebe, das sie nicht ernst nahmen, sondern eher persiflierten. Genauso hatten sie es zur Tradition gemacht, dass er versuchte, ihr eine Rose auszuschießen. An der Schießbude opferte er manche Münze, um seiner Liebsten eine Blume überreichen zu können. Sie feuerte ihn an und neckte ihn, wenn er wieder mal keinen Erfolg hatte. Aber er machte tapfer weiter, bis er ihr eine rote Rose überreichen konnte. Jetzt war es Zeit für eine Bratwurst. Weitere Fahrgeschäfte standen nicht auf dem Programm. Sie suchten den Stand, an dem sie auch in den Jahren zuvor eine Wurst gegessen hatten. Dafür mussten sie sich ein Stück zurück einen Weg durch die Menge bahnen. Ihnen begegnete ein bekanntes Paar und sie drängelten sich nun zu viert durch die Menschenansammlungen. Die beiden luden das andere Paar zu einer Wurst ein. Sie staunten etwas über die Preise, vor allem für einen Krakauer. Aber es war ja schließlich Jahrmarkt. Da musste man mit saftigen Preisen für eine saftige Wurst rechnen. Nachdem sie ihre Wurst verzehrt hatten, nahmen sie den letzten Teil ihres Rundgangs in Angriff. Das andere Paar wollte eine weitere Runde über den Markt drehen. Um den Abend abzurunden, fehlte noch der Erwerb von gebrannten Mandeln. Während sie ihren Kauf tätigten, bemerkten sie, wie hinter ihnen zwei Frauen in Streit gerieten und sich schlugen und an die Haare zogen. Der Lärm war beträchtlich, selbst bei dem allgemeinen Pegel, der der Jahrmarkttrubel mit sich brachte. Schnell gingen einige Passanten dazwischen und beendeten die Schlägerei. Eine der beiden Frauen lief laut schimpfend weg. Die andere versuchte, den Umstehenden ihr Verhalten zu erklären. Es bestand jedoch kein Interesse, die Menschen wandten sich ab und liefen weiter. Mit einem leisen Gefühl des Unbehagens schlugen beide den Nachhauseweg ein. Der Vorfall warf für kurze Zeit einen Schatten auf den ansonsten so fröhlichen und harmonischen Abend. Aber schnell schüttelten sie das Unbehagen ab und spazierten Hand in Hand heimwärts. © 2025 Rodion Farjon
von Rodion Farjon 2. Juli 2025
„Was wäre wenn …“ Der Feierabendverkehr war wie immer zäh und hektisch zugleich. Es fing schon auf dem Firmengelände an, da die Mitarbeitenden alle so schnell wie möglich wegwollten. Manche legten einen wahrhaften Sprint zum Auto hin, um vor dem großen Pulk am Tor zu sein. Georg hatte es sich zur Regel gemacht, fünf Minuten später wegzufahren. Dann hatte sich der Stau zum größten Teil aufgelöst. Allerdings blieb ihm das Warten vor den Ampeln und vor dem Kreisverkehr nicht erspart. Erst außerhalb der Stadt wurde es ruhiger. Er fuhr fast immer über die Landstraße und wählte Nebenstrecken, um ohne Hektik nach Hause zu fahren. Regelmäßig erledigte er noch Einkäufe, die in der Liste auf dem Mobiltelefon standen. Seine Frau hatte die gleiche Liste auf dem Telefon. So konnte jeder sehen, was noch zu besorgen war und Erledigtes abhaken. Heute war die Stadt mehr als üblich verstopft. Eine Baustelle auf der Brücke verengte die Fahrbahn. Deswegen wurde der Verkehr abwechselnd gestoppt oder vorbeigeleitet. Die tägliche Fahrt hin und zurück kostete Zeit und Nerven. Aber er hatte keine Wahl, die Firma siedelte nun mal in der Stadt und sie wohnten etwa zwanzig Kilometer außerhalb in dem Haus, das er von den Eltern geerbt hatte. Es lag am Rande eines kleineren Ortes auf einem mittelgroßen Grundstück und bot alle Annehmlichkeiten, die sie sich wünschen konnten. Sie lebten dort nun schon mehr als zwanzig Jahre. Die Kinder, zwei Mädchen, waren schon ausgezogen und selbstständig. Der Zusammenhalt war groß, die Familie kam öfter zusammen, wobei die Partner der Kinder dabei waren. Seine Frau Vera hatte schon früh nach der Geburt der Kinder ihren Beruf wieder aufgenommen. Sie teilten sich, sofern es möglich war, die Arbeitszeit. Er arbeitete jetzt wieder in Vollzeit, aber dachte über eine Reduzierung nach. Gerne hätte er mehr Zeit für seine Hobbys. Während er geduldig im Stau voran kroch, kam er ins Grübeln. Im Laufe der Jahre überfiel ihn ab und zu der Gedanke, was wohl gewesen wäre, wenn sich an einem bestimmten Punkt im Leben die Situation anders entwickelt hätte. Immer fiel ihm dann seine große Liebe ein, die er beim Studium kennengelernt hatte. Damals war es das erste Mal, dass er nicht nur verliebt war, sondern eine tiefe Zuneigung spürte für seine Kommilitonin, mit der er zusammen mit einigen anderen Studenten und Studentinnen auch in der Freizeit einiges unternahm. Er gehörte nicht zu den Draufgängern und hatte ihr lange Zeit seine Gefühle nicht offenbart. Aber auch ohne Eingeständnis war den andern wohl klar, wie es um sie beide stand. Und sie war schlau genug, an seinem Verhalten abzulesen, dass sie ihm mehr bedeutete als andere Frauen. Obendrein neckten ihn die anderen in der Gruppe von Zeit zu Zeit mit seiner Schüchternheit. Es war aber nicht nur diese, die ihn davon abhielt, ihr offen zu sagen, dass er sie liebte. Er befürchtete, dass ein solches Bekenntnis bei ihr keinen Widerhall finden würde und dass dadurch das Verhältnis in der Gruppe dauerhaft verändert, ja geschädigt werden würde. Als das Studium zu Ende ging, wagte er nach einer Geburtstagsfeier ihr seine Liebe zu gestehen. Er hatte ziemlich viel getrunken und sie hatte besorgt gefragt, ob er allein nach Hause finden würde. Sie begleitete ihn nach unten zur Straße und bot an, ihn mit dem Auto hinzufahren. Da überwand er seine Scheu. Es war Zeit, den Knoten durchzuhauen. Er wusste nichts Besseres, als ihr direkt zu sagen, dass er sie so wahnsinnig liebte. Sie lächelte und streichelte seine Wange, als sie sagte, sie wisse das doch. Sie würde ihn sehr gerne mögen, aber sie könne seine Liebe nicht erwidern. Das müsse er bitte verstehen, ohne weiter zu fragen. Sie möchte weiterhin so gut mit ihm befreundet bleiben und wünsche ihm, dass er eine liebe Frau finden werde. Ihm jagten viele Gefühle und Gedanken durcheinander durch den Kopf, als er sagte, er habe schon mit einer solchen Antwort gerechnet und sei ihr nicht böse, er könne das verstehen. In Wirklichkeit konnte er noch gar nichts verstehen. Aus Verlegenheit sagte er so etwas wie: „Ich geh dann mal “ und ließ sie stehen. Am nächsten Tag war die Begegnung in der Uni geprägt von dem beiderseitigen Versuch, zu tun, als sei alles beim Alten. Er versuchte, sich im Gespräch mit den anderen betont neutral zu verhalten und rührte das auf der Feier Geschehene nicht an. Auch die anderen zeigten keine eindeutige Reaktion. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass zumindest die Frauen eingeweiht waren. Er schüttelte den Gedanken als Einbildung ab. Aber es war, wie er vorher befürchtet hatte: es fehlte die Lockerheit, immer wieder hatte er den Eindruck, sie agierten „mit angezogener Handbremse“. Gewisse Situationen und Themen wurden gemieden oder schnell übergangen, um sich nicht in Verlegenheit zu bringen. Er wurde in den letzten Wochen vor dem Examen allmählich nachdenklicher, setzte sich öfter von den gemeinsamen Aktivitäten ab. Nachdem das Studium zu Ende war, verliefen sich die Lebenswege immer mehr. Bei dem einen war es der Beruf, der ihn in andere Orte ziehen ließ, bei anderen war eine Heirat und das Familienleben in den Mittelpunkt gerückt. Seine Liebe zog für längere Zeit ins Ausland. Er hatte sie nach dem Examen nur noch ein einziges Mal getroffen. In dem Gespräch waren sie einander freundlich zugewandt gewesen, aber hatten es vermieden, tiefere Emotionen zu zeigen. Später fiel ihm auf, dass sie nicht einmal die Adressen ausgetauscht hatten. Von einer Kommilitonin aus der Gruppe erfuhr er kurze Zeit später, weshalb seine Liebe nicht erwidert worden war. Sie gestand ihm unter der Voraussetzung, dass er versprach, Stillschweigen zu bewahren, dass seine Freundin lesbisch sei. Somit war sie nicht in der Lage, mit ihm eine Beziehung einzugehen. Ihm überkam ein Gefühl von Trauer, auch weil er sie unwissentlich in eine peinliche Situation gebracht hatte. Es tat ihm leid, dass sie ihrer sexuellen Veranlagung wegen gezwungen war, vieles zu erdulden, und dass sie sich in der Öffentlichkeit immer verstellen musste, nur um die Ächtung der Gesellschaft zu vermeiden. Es war für ihn aber eine Erleichterung zu wissen, dass es nicht seine Persönlichkeit war, die zu ihrer Reaktion geführt hatte. „Was wäre, wenn ---“ ging ihm öfter durch den Kopf. Was wäre alles anders verlaufen, wenn sie seine Liebe hätte erwidern können? Hätte er ein gutbürgerliches Leben geführt wie jetzt? Welche Kinder hätte er gehabt, wenn überhaupt welche? Er hatte etwa ein Jahr nachdem er bei der Firma angefangen hatte, seine Frau kennengelernt. Sie war eine sehr frohe und einfühlende Person und sie waren ein glückliches Paar und eine glückliche Familie. Und trotzdem geschah es, dass ein Gefühl von Wehmut aufkam und er an seine Kommilitonin denken musste. Er ließ das Gefühl zu, wissend, dass die leise Sehnsucht nach ihrer Stimme und ihrer sanften Hand an seiner Wange ein Teil von ihm war. Er konnte es zulassen, da es seinen Gefühlen für seine Frau und den Kindern keinen Abbruch tat. Er stellte keinen Vergleich an, gab es doch gar keine Möglichkeit, herauszufinden, wie die andere Beziehung denn wohl gewesen wäre und wie sie sich entwickelt hätte. Träumereien konnten die Realität nicht ersetzen und boten keine Gewähr. Aber er staunte immer wieder, wie sehr eine kleine Gegebenheit sich auf den Rest eines Lebens auswirken konnte. Es war verblüffend, wie viele Möglichkeiten durch ein einzelnes Ereignis ausschieden. Lag dort der Grund für die sogenannte Midlife-Crisis, in der man zu grübeln anfing über den Stand und die Qualität des Erreichten? War es die Erkenntnis, dass man viele Träume nicht verwirklicht hatte aufgrund einer einzelnen Entscheidung? Wenn ja, dann stellte sich doch die Frage, wie man mit diesen Gedanken umging. „No use crying over spilled milk“, dachte er. Viele Jahre später hatte er versucht, herauszufinden, was seine Freundin machte und wo sie wohnte. Da sie einen viel vorkommenden Namen hatte und eventuell inzwischen anders hieß, konnte er nicht eindeutig bestimmen, welche der Personen, über die er einige Informationen erhielt, tatsächlich die gesuchte war. Außerdem wollte er keinen Kontakt aufnehmen, da das zu viele Unwägbarkeiten mit sich brächte. Seiner Frau hatte er nie von der Freundin erzählt. Er war sich bewusst, dass seine Befürchtung vor einer eifersüchtigen Reaktion unbegründet war. Aufgrund von Erfahrungen in seiner Kindheit hatte er aber eine tief sitzende Angst vor Kränkungen. Er zog es vor, Belastendes mit sich selber auszumachen. Inzwischen hatte er den Stau hinter sich gelassen. Er steuerte einen Supermarkt an, um einige Besorgungen von der Einkaufsliste zu machen. Auf dem Mobiltelefon schickte er seiner Frau einen Gruß mit drei Herzen. © 2025 Rodion Farjon
von Rodion Farjon 7. Mai 2025
von Rodion Farjon 7. Mai 2025
von Rodion Farjon 7. Mai 2025
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von Rodion Farjon 7. Mai 2025
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O du fröhliche …
von Rodion Farjon 27. November 2024
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von Rodion Farjon 27. November 2024
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