Kirmes
Für den Abend war eine gemeinsame Runde über den Jahrmarkt geplant. Das befreundete Paar hatte aber abgesagt. Die kleine Tochter war krank und die Eltern wollten die vorgesehene Betreuung nicht mit dem Kind allein lassen. Somit hatten sie entschieden, zu Hause zu bleiben. Sie hatten viel Spaß gewünscht und wollten sich mit ihnen treffen, sobald die Kleine wieder gesund sei.
Deshalb beschlossen sie beide, ohne ihre Gesellschaft zur Kirmes zu gehen. Es würde frisch werden, möglicherweise sogar etwas regnen. Deshalb nahmen sie eine Jacke mit, auch wenn das lästig war. Solange es warm und trocken war, brauchten sie keine, weshalb sie sie in der Hand mittragen mussten.
Sie hatte am Tag zuvor schon Kleingeld und Scheine besorgt. Der Abend würde einiges kosten. Aber es war nur einmal im Jahr Markt. Sie legten den Weg zum Festgelände zu Fuß zurück. Nach einer guten Viertelstunde waren sie an einem der Zugänge. Schon beim Eingang war das Gedränge groß. Sie schlenderten an einigen Buden mit Speiseangeboten vorbei. Der Anblick und der Duft waren verlockend, aber vorher wollten sie ein paar Fahrgeschäfte ausprobieren. Als erstes wählten sie ein traditionelles Kettenkarussell. Sie konnten zwei Sitze nebeneinander einnehmen, was der Spaß erhöhte. Diese Fahrt war schon zur Tradition geworden. Erinnerungen an ihre Jugendzeit spielten dabei eine große Rolle. Das erste Mal war eine Mutprobe gewesen. Das damals überwältigende Gefühl von Geschwindigkeit, die Erfahrung, fast freischwebend durch die Zentrifugalkraft weit hinausgedrückt zu werden und dabei die Umgebung nur noch als wirbelnde, bunte Masse wahrzunehmen, prägte sich ein. Diese Erinnerung galt es aufzurufen, das Gefühl von Freiheit wieder zu erleben und zu versuchen, die Kette des Sitzes nebenan zu fassen. Es gelang ihnen, den Wirbel, der orientierungslos machte, wieder zu spüren. Das alles war ein guter Auftakt.
Nach der Fahrt mussten sie zuerst das Gleichgewicht wiedererlangen. Sie fühlten sich wie Betrunkene. Aber schnell normalisierte sich der Zustand. Vergnügt über den gelungenen Anfang schlenderten sie Hand in Hand weiter, gelegentlich geschubst von fröhlichen Menschen, die sich lachend durch die Menge bewegten. Manche entschuldigten sich und riefen etwas als Bestätigung der positiven Stimmung. Von überall klang Musik, eine wilde Kakofonie, gespickt mit Lautsprecheransagen, die ein Loblied auf das jeweilige Geschäft sangen. Überall blinkten Lichter, leuchteten Pfeile auf und drehten sich Leuchtreklamen.
Als nächstes war die Krake dran, ein sich doppelt drehendes Gerät, dessen Arme dabei auch noch hoch und herunter fuhren. In ihrer Jugend war es das Nonplusultra an Geschwindigkeit und Waghalsigkeit gewesen. Jetzt gehörte die Krake zu den simpleren Karussells, mit denen man nicht mehr angeben konnte. Aber die Tradition verlangte auch eine Runde mit diesem Fahrgeschäft und somit stiegen sie ein. Am Ende der Fahrt kletterten sie aus der Gondel und stiegen die wenigen Stufen hinunter. Lachend und leicht schwankend setzten beide den Rundgang über den Platz fort.
Als sie beim Stand ankamen, an dem man Dosen abwerfen konnte, wurde auch das ins Programm aufgenommen. Es war schwieriger als gedacht, alle Dosen herunter zu werfen. Er holte mit großem Schwung aus und warf mit hoher Geschwindigkeit, aber nicht ausreichend zielgenau. So gewann er keinen Preis. Sie warf dagegen sorgfältiger, wenn auch weniger schnell, und schaffte es, die Dosen abzuräumen. Der Lohn war eine rote Kunststoffrose, die sie ihm ins Knopfloch heftete. Ein Kuss war sein Dankeschön.
Sie schauten sich ein riesiges Fahrgeschäft an, bei der die Insassen der beiden Gondeln an einem langen Arm kopfüber herumgeschleudert wurden. Helle Schreie schallten durch die Luft, wenn die eine Gondel mit großem Tempo hochfuhr und im Zenit fast stehen blieb, bevor die Fahrt mit Schwung hinab ging. Am anderen Ende des Armes spielte sich, um eine halbe Drehung versetzt, die gleiche Szene ab. Für sie beide war das ein paar Nummern zu groß. Sie schüttelte sich und drängte sich an seine Seite, als müsse sie Schutz suchen. Um sie zu necken, sagte er, er würde jetzt zwei Tickets holen. Sie boxte ihn gegen die Schulter und protestierte, wobei sie wusste, dass er das nur sagte, um sie zu ärgern. Die Stimmung war fröhlich und unbeschwert. Nichts trübte die Glückseligkeit der beiden.
Der Andrang war an manchen Orten so groß, dass sie warten mussten, bis sie sich durch die Leiber hindurchzwängen konnten. Trotzdem waren alle gut gelaunt. Im Vorbeigehen trafen sie einige bekannte Gesichter. Ein Zuruf vermittelte die Wiedererkennung und einige Worte wurden im Gedränge gewechselt. Sie entschieden sich als nächstes für die Achterbahn. Im Vergleich zu dem modernen Koloss, vor dem sie standen, war das, was sie aus ihrer Jugend in Erinnerung hatten, fast ein Kinderspielzeug. Mit einigem Zittern wagten sie sich an das Experiment, ein paar Loopings zu erleben. Festgeschnallt und mit einem Bügel gesichert, rasten sie wie in einem Projektil über die Gleise. Sie konnten nicht anders als aufzuschreien, so wie fast alle Mitfahrenden. Bei den Loopings bekamen sie ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch und verloren die Orientierung. Die Fahrt endete auf einem geraden Gleisstück, auf dem die Gondeln wie in einem Bahnhof anhielten. Etwas blass um der Nase verließen sie die Achterbahn. Er fragte, ob sie ein zweites Mal mitfahren wollte. Sie lehnte dankend ab.
An einem Getränkestand bestellten sie je ein Bier. Auch hier war das Gedränge groß. Es gelang, sich mit den vollen Gläsern einen Weg zu einem Stehtisch zu bahnen. Konversation war nur mit einer größeren Lautstärke möglich. Sie sprachen sowieso nicht ständig, sondern beobachteten, was ringsum geschah. Einige Besucher hatten dem Bier wohl ausgiebiger zugesprochen. Ein Mann schwankte durch die Menge, wurde aber nicht aggressiv und von den Passanten stillschweigend umgangen. Irgendwo außerhalb des Geländes ertönte die Sirene einer Ambulanz. Es liefen auch Rotkreuz-Mitarbeiter Streife, um wenn nötig zu helfen.
Während ihr Ehemann sich bemühte, ein zweites Mal Getränke zu ergattern, schaute sie sich um. Ihr Blick fiel auf einen jungen Mann, der einige Tische entfernt stand und sich das Treiben anschaute. Sie schätzte sein Alter auf etwa neunzehn Jahre. Blutjung, dachte sie, fast noch ein Junge. Er hatte dunkles, lockiges Haar, das ungekämmt von seinem Kopf abstand. Eine Locke fiel in seine Stirn. Fasziniert betrachtete sie sein Gesicht. Dunkle Augenbrauen und dunkle Augen, eine gerade, aber nicht zu große Nase, geschwungene Lippen und einen leicht dunkleren Teint als die meisten Umstehenden. Seine Haut war glatt und auf seinen Wangen und Kinn zeichnete sich noch kein dunkler Schatten von einem starken Bartwuchs ab. Er erinnerte sie an einen antiken Jüngling. Erst als er in ihre Richtung blickte, wurde ihr bewusst, dass sie ihn die ganze Zeit angestarrt hatte. Schnell blickte sie nach unten, um dann zu ihrem Mann zu sehen, der es gerade geschafft hatte, zwei Gläser Bier zu erstehen. Er kam zu ihr an den Tisch. Während sie trank, konnte sie den Drang nicht widerstehen, zu dem jungen Mann zu schauen. Aus dem Augenwinkel versuchte sie zu erkennen, ob der in ihre Richtung sah. Gerade als sie es wagen wollte, hinzusehen, drang die Stimme ihres Mannes zu ihr durch. Sie zuckte leicht zusammen. Hatte er das erste Mal etwas zu ihr gesagt oder hatte sie ihn gar nicht erst gehört? Er lächelte sie aber an und fragte, ob sie weitergehen sollten. Sie trank aus. Ihre Gläser brachten sie zum Stand zurück. Nun folgte sie ihm durch die Umstehenden. Sie wagte es nicht, sich noch einmal umzudrehen und hakte sich bei ihrem Mann unter. Sie schüttelte einige Überlegungen von sich ab. Ihr ging die bekannte Frage durch den Kopf, ob Untreue schon beim Gedanken anfängt. Und sogleich fiel ihr ein anderer Spruch ein: Appetit darf man sich anderswo holen, gegessen wird zu Hause. Sie musste grinsen. Wie schnell man auf solche Plattitüden kommt! Und wie viel Lebenserfahrung da doch gleichzeitig drin steckt!
Aber dann musste sie sich auf das reale Geschehen konzentrieren. Ihr Mann bahnte ihnen einen Weg durch die Menge und sie musste aufpassen, nicht abgedrängt zu werden. Inzwischen nieselte es ein wenig. Sie zogen ihre Jacken an. Ein Kinderkarussell wurde mit Planen zugedeckt. Das Fahrgeschäft machte zu, da es schon dunkel war und kaum noch Eltern mit Kindern unterwegs waren. Sie schlenderten weiter und hielten vor der Geisterbahn. Er erinnerte sie an das erste Mal, dass er mit ihr hineingegangen war und sie die Gelegenheit genutzt hatten, sich zu umarmen. Sie nutzte damals die Chance, sich als Schutzsuchende geben zu können, während er nur allzu gerne seinen Arm um ihre Schulter legte. Das war einst ein nettes Spiel mit den romantisch-kitschigen Vorstellungen der keuschen Liebe, das sie nicht ernst nahmen, sondern eher persiflierten. Genauso hatten sie es zur Tradition gemacht, dass er versuchte, ihr eine Rose auszuschießen. An der Schießbude opferte er manche Münze, um seiner Liebsten eine Blume überreichen zu können. Sie feuerte ihn an und neckte ihn, wenn er wieder mal keinen Erfolg hatte. Aber er machte tapfer weiter, bis er ihr eine rote Rose überreichen konnte.
Jetzt war es Zeit für eine Bratwurst. Weitere Fahrgeschäfte standen nicht auf dem Programm. Sie suchten den Stand, an dem sie auch in den Jahren zuvor eine Wurst gegessen hatten. Dafür mussten sie sich ein Stück zurück einen Weg durch die Menge bahnen. Ihnen begegnete ein bekanntes Paar und sie drängelten sich nun zu viert durch die Menschenansammlungen. Die beiden luden das andere Paar zu einer Wurst ein. Sie staunten etwas über die Preise, vor allem für einen Krakauer. Aber es war ja schließlich Jahrmarkt. Da musste man mit saftigen Preisen für eine saftige Wurst rechnen. Nachdem sie ihre Wurst verzehrt hatten, nahmen sie den letzten Teil ihres Rundgangs in Angriff. Das andere Paar wollte eine weitere Runde über den Markt drehen. Um den Abend abzurunden, fehlte noch der Erwerb von gebrannten Mandeln. Während sie ihren Kauf tätigten, bemerkten sie, wie hinter ihnen zwei Frauen in Streit gerieten und sich schlugen und an die Haare zogen. Der Lärm war beträchtlich, selbst bei dem allgemeinen Pegel, der der Jahrmarkttrubel mit sich brachte. Schnell gingen einige Passanten dazwischen und beendeten die Schlägerei. Eine der beiden Frauen lief laut schimpfend weg. Die andere versuchte, den Umstehenden ihr Verhalten zu erklären. Es bestand jedoch kein Interesse, die Menschen wandten sich ab und liefen weiter.
Mit einem leisen Gefühl des Unbehagens schlugen beide den Nachhauseweg ein. Der Vorfall warf für kurze Zeit einen Schatten auf den ansonsten so fröhlichen und harmonischen Abend. Aber schnell schüttelten sie das Unbehagen ab und spazierten Hand in Hand heimwärts.
© 2025 Rodion Farjon

In lockerer Reihenfolge werde ich hier über meine Aktivitäten Auskunft geben, Texte, Gedichte, Sprüche und Bilder veröffentlichen, die neben den Beiträgen auf meiner Homepage den aktuellen Stand meiner Tätigkeiten wiederspiegeln.
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