„Was wäre wenn …“
Der Feierabendverkehr war wie immer zäh und hektisch zugleich. Es fing schon auf dem Firmengelände an, da die Mitarbeitenden alle so schnell wie möglich wegwollten. Manche legten einen wahrhaften Sprint zum Auto hin, um vor dem großen Pulk am Tor zu sein.
Georg hatte es sich zur Regel gemacht, fünf Minuten später wegzufahren. Dann hatte sich der Stau zum größten Teil aufgelöst. Allerdings blieb ihm das Warten vor den Ampeln und vor dem Kreisverkehr nicht erspart. Erst außerhalb der Stadt wurde es ruhiger. Er fuhr fast immer über die Landstraße und wählte Nebenstrecken, um ohne Hektik nach Hause zu fahren. Regelmäßig erledigte er noch Einkäufe, die in der Liste auf dem Mobiltelefon standen. Seine Frau hatte die gleiche Liste auf dem Telefon. So konnte jeder sehen, was noch zu besorgen war und Erledigtes abhaken.
Heute war die Stadt mehr als üblich verstopft. Eine Baustelle auf der Brücke verengte die Fahrbahn. Deswegen wurde der Verkehr abwechselnd gestoppt oder vorbeigeleitet. Die tägliche Fahrt hin und zurück kostete Zeit und Nerven. Aber er hatte keine Wahl, die Firma siedelte nun mal in der Stadt und sie wohnten etwa zwanzig Kilometer außerhalb in dem Haus, das er von den Eltern geerbt hatte. Es lag am Rande eines kleineren Ortes auf einem mittelgroßen Grundstück und bot alle Annehmlichkeiten, die sie sich wünschen konnten.
Sie lebten dort nun schon mehr als zwanzig Jahre. Die Kinder, zwei Mädchen, waren schon ausgezogen und selbstständig. Der Zusammenhalt war groß, die Familie kam öfter zusammen, wobei die Partner der Kinder dabei waren. Seine Frau Vera hatte schon früh nach der Geburt der Kinder ihren Beruf wieder aufgenommen. Sie teilten sich, sofern es möglich war, die Arbeitszeit. Er arbeitete jetzt wieder in Vollzeit, aber dachte über eine Reduzierung nach. Gerne hätte er mehr Zeit für seine Hobbys.
Während er geduldig im Stau voran kroch, kam er ins Grübeln. Im Laufe der Jahre überfiel ihn ab und zu der Gedanke, was wohl gewesen wäre, wenn sich an einem bestimmten Punkt im Leben die Situation anders entwickelt hätte. Immer fiel ihm dann seine große Liebe ein, die er beim Studium kennengelernt hatte. Damals war es das erste Mal, dass er nicht nur verliebt war, sondern eine tiefe Zuneigung spürte für seine Kommilitonin, mit der er zusammen mit einigen anderen Studenten und Studentinnen auch in der Freizeit einiges unternahm. Er gehörte nicht zu den Draufgängern und hatte ihr lange Zeit seine Gefühle nicht offenbart. Aber auch ohne Eingeständnis war den andern wohl klar, wie es um sie beide stand. Und sie war schlau genug, an seinem Verhalten abzulesen, dass sie ihm mehr bedeutete als andere Frauen. Obendrein neckten ihn die anderen in der Gruppe von Zeit zu Zeit mit seiner Schüchternheit. Es war aber nicht nur diese, die ihn davon abhielt, ihr offen zu sagen, dass er sie liebte. Er befürchtete, dass ein solches Bekenntnis bei ihr keinen Widerhall finden würde und dass dadurch das Verhältnis in der Gruppe dauerhaft verändert, ja geschädigt werden würde.
Als das Studium zu Ende ging, wagte er nach einer Geburtstagsfeier ihr seine Liebe zu gestehen. Er hatte ziemlich viel getrunken und sie hatte besorgt gefragt, ob er allein nach Hause finden würde. Sie begleitete ihn nach unten zur Straße und bot an, ihn mit dem Auto hinzufahren. Da überwand er seine Scheu. Es war Zeit, den Knoten durchzuhauen. Er wusste nichts Besseres, als ihr direkt zu sagen, dass er sie so wahnsinnig liebte. Sie lächelte und streichelte seine Wange, als sie sagte, sie wisse das doch. Sie würde ihn sehr gerne mögen, aber sie könne seine Liebe nicht erwidern. Das müsse er bitte verstehen, ohne weiter zu fragen. Sie möchte weiterhin so gut mit ihm befreundet bleiben und wünsche ihm, dass er eine liebe Frau finden werde.
Ihm jagten viele Gefühle und Gedanken durcheinander durch den Kopf, als er sagte, er habe schon mit einer solchen Antwort gerechnet und sei ihr nicht böse, er könne das verstehen. In Wirklichkeit konnte er noch gar nichts verstehen. Aus Verlegenheit sagte er so etwas wie: „Ich geh dann mal “ und ließ sie stehen. Am nächsten Tag war die Begegnung in der Uni geprägt von dem beiderseitigen Versuch, zu tun, als sei alles beim Alten. Er versuchte, sich im Gespräch mit den anderen betont neutral zu verhalten und rührte das auf der Feier Geschehene nicht an. Auch die anderen zeigten keine eindeutige Reaktion. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass zumindest die Frauen eingeweiht waren. Er schüttelte den Gedanken als Einbildung ab. Aber es war, wie er vorher befürchtet hatte: es fehlte die Lockerheit, immer wieder hatte er den Eindruck, sie agierten „mit angezogener Handbremse“. Gewisse Situationen und Themen wurden gemieden oder schnell übergangen, um sich nicht in Verlegenheit zu bringen.
Er wurde in den letzten Wochen vor dem Examen allmählich nachdenklicher, setzte sich öfter von den gemeinsamen Aktivitäten ab. Nachdem das Studium zu Ende war, verliefen sich die Lebenswege immer mehr. Bei dem einen war es der Beruf, der ihn in andere Orte ziehen ließ, bei anderen war eine Heirat und das Familienleben in den Mittelpunkt gerückt. Seine Liebe zog für längere Zeit ins Ausland. Er hatte sie nach dem Examen nur noch ein einziges Mal getroffen. In dem Gespräch waren sie einander freundlich zugewandt gewesen, aber hatten es vermieden, tiefere Emotionen zu zeigen. Später fiel ihm auf, dass sie nicht einmal die Adressen ausgetauscht hatten.
Von einer Kommilitonin aus der Gruppe erfuhr er kurze Zeit später, weshalb seine Liebe nicht erwidert worden war. Sie gestand ihm unter der Voraussetzung, dass er versprach, Stillschweigen zu bewahren, dass seine Freundin lesbisch sei. Somit war sie nicht in der Lage, mit ihm eine Beziehung einzugehen. Ihm überkam ein Gefühl von Trauer, auch weil er sie unwissentlich in eine peinliche Situation gebracht hatte. Es tat ihm leid, dass sie ihrer sexuellen Veranlagung wegen gezwungen war, vieles zu erdulden, und dass sie sich in der Öffentlichkeit immer verstellen musste, nur um die Ächtung der Gesellschaft zu vermeiden. Es war für ihn aber eine Erleichterung zu wissen, dass es nicht seine Persönlichkeit war, die zu ihrer Reaktion geführt hatte.
„Was wäre, wenn ---“ ging ihm öfter durch den Kopf. Was wäre alles anders verlaufen, wenn sie seine Liebe hätte erwidern können? Hätte er ein gutbürgerliches Leben geführt wie jetzt? Welche Kinder hätte er gehabt, wenn überhaupt welche? Er hatte etwa ein Jahr nachdem er bei der Firma angefangen hatte, seine Frau kennengelernt. Sie war eine sehr frohe und einfühlende Person und sie waren ein glückliches Paar und eine glückliche Familie. Und trotzdem geschah es, dass ein Gefühl von Wehmut aufkam und er an seine Kommilitonin denken musste. Er ließ das Gefühl zu, wissend, dass die leise Sehnsucht nach ihrer Stimme und ihrer sanften Hand an seiner Wange ein Teil von ihm war. Er konnte es zulassen, da es seinen Gefühlen für seine Frau und den Kindern keinen Abbruch tat. Er stellte keinen Vergleich an, gab es doch gar keine Möglichkeit, herauszufinden, wie die andere Beziehung denn wohl gewesen wäre und wie sie sich entwickelt hätte. Träumereien konnten die Realität nicht ersetzen und boten keine Gewähr. Aber er staunte immer wieder, wie sehr eine kleine Gegebenheit sich auf den Rest eines Lebens auswirken konnte. Es war verblüffend, wie viele Möglichkeiten durch ein einzelnes Ereignis ausschieden. Lag dort der Grund für die sogenannte Midlife-Crisis, in der man zu grübeln anfing über den Stand und die Qualität des Erreichten? War es die Erkenntnis, dass man viele Träume nicht verwirklicht hatte aufgrund einer einzelnen Entscheidung? Wenn ja, dann stellte sich doch die Frage, wie man mit diesen Gedanken umging. „No use crying over spilled milk“, dachte er.
Viele Jahre später hatte er versucht, herauszufinden, was seine Freundin machte und wo sie wohnte. Da sie einen viel vorkommenden Namen hatte und eventuell inzwischen anders hieß, konnte er nicht eindeutig bestimmen, welche der Personen, über die er einige Informationen erhielt, tatsächlich die gesuchte war. Außerdem wollte er keinen Kontakt aufnehmen, da das zu viele Unwägbarkeiten mit sich brächte.
Seiner Frau hatte er nie von der Freundin erzählt. Er war sich bewusst, dass seine Befürchtung vor einer eifersüchtigen Reaktion unbegründet war. Aufgrund von Erfahrungen in seiner Kindheit hatte er aber eine tief sitzende Angst vor Kränkungen. Er zog es vor, Belastendes mit sich selber auszumachen.
Inzwischen hatte er den Stau hinter sich gelassen. Er steuerte einen Supermarkt an, um einige Besorgungen von der Einkaufsliste zu machen. Auf dem Mobiltelefon schickte er seiner Frau einen Gruß mit drei Herzen.
© 2025 Rodion Farjon

In lockerer Reihenfolge werde ich hier über meine Aktivitäten Auskunft geben, Texte, Gedichte, Sprüche und Bilder veröffentlichen, die neben den Beiträgen auf meiner Homepage den aktuellen Stand meiner Tätigkeiten wiederspiegeln.
Ich hoffe, die Beiträge machen neugierig auf mehr.