Paulas Wunsch

Sie wünschte sich eine elektrische Eisenbahn. Nicht irgendeine, sondern eine Marken-Eisenbahn, Spurweite H0. Schon als kleines Mädchen war sie fasziniert von den täuschend echten Lokomotiven und Waggons, von den vielen Häusern, Bäumen und kleinen Figuren. Sie konnte stundenlang vor dem großen Schaufenster des Kaufhauses stehen und zuschauen.

Aber jedes Mal, wenn Paula ihren Wunsch äußerte, wurde der von den Eltern abgetan mit der Bemerkung, das sei doch nichts für Mädchen. Die könnten doch gar nicht mit der Technik umgehen, das sei etwas für Jungen. Sie solle sich lieber an das halten, was auch andere Mädchen sich wünschten. Es gäbe doch so schöne Puppen, die man an- und auskleiden konnte, mit Schlafaugen und die „Mama“ sagten, wenn man sie nach vorne kippte. Ihre Mutter erzählte von ihrem großen Wunsch, eine echte Puppe aus Kunststoff zu besitzen, mit beweglichen Armen und Beinen, mit Augenlidern, die sich schlossen, wenn man sie auf den Rücken legte. Und mit vielen schönen Kleidern und einem Puppenwagen. Ihr Wunsch sei nie in Erfüllung gegangen. Solche Puppen waren viel zu teuer. Sie bekam eine Stoffpuppe mit angenähten Händen und Füßen und mit selbst genähten Kleidern. Sie wäre zuerst zwar sehr enttäuscht gewesen, aber schon bald hatte sie ihre Lisa innig geliebt und überall mit hingenommen. Lisa sah nach einigen Jahren ziemlich ramponiert aus und war schon einige Male geflickt worden. Aber es war ihre Lisa. Deshalb war es so schlimm, dass Lisa verloren ging, als sie kriegsbedingt umziehen mussten.

Diese Erzählung, die sowohl als Ermahnung als auch als Trost dienen sollte, verfehlte bei Paula aber ihre Wirkung. Sie konnte nicht gegen das große Verlangen ankämpfen. Sie hatte auch eine Puppe und liebte die ebenfalls, aber das war unabhängig von ihrem Wunsch, eine elektrische Eisenbahn zu besitzen. Das war etwas ganz anderes. Da konnte man immer mehr an dem Tableau hinzufügen, die Details erweitern und Lokomotiven und Waggons zukaufen. Paula brachte ihren Eltern gegenüber diese Argumente auch vor. Was sie nicht ahnte, war, dass gerade diese Möglichkeiten, die dem System innewohnten, bei ihnen die Ablehnung noch verstärkten. Dieser Wunsch nach immer mehr ließ sie für die finanziellen Folgen zurückschrecken, unabhängig von der Vorstellung, dass Mädchen nicht mit Jungenspielsachen spielen sollten.

Paula saß nach einer solchen Diskussion, die eigentlich schon keine mehr war, sondern eine Wiederholung der Argumente in ihrem Zimmer und konnte sich nicht beruhigen. Aber es half nichts. Sie hatte sich angewöhnt, die Traurigkeit dadurch zu verringern, dass sie sich alte Prospekte anschaute und die Bilder der Züge abmalte. Dabei konnte sie eine Landschaft erfinden und diese mit Figuren bestücken. Sie stellte sich vor, wie sie den gemalten Plan umsetzen würde. So wurde der Schmerz geringer und sie konnte sich wieder anderen Dingen zuwenden.

Unglücklicherweise lagen ihr Geburtstag und Weihnachten nur zwei Wochen auseinander. Dadurch machten sich beide Ereignisse Konkurrenz. Je näher der Geburtstag kam, umso nervöser wurde sie. Sie scheute davor zurück, ihren Herzenswunsch wieder vorzubringen. Die Argumente waren benannt und sie wollte keinen Streit oder auch nur dem Vorwurf neue Nahrung verschaffen, dass das Thema doch schon mehrmals entschieden sei. Sie wurde zerrieben zwischen ihrem Wunsch und dem Bedürfnis, die Eltern nicht in schlechte Laune zu versetzen. Das wäre für alle Beteiligten eine belastende Situation. Und vor allem das Weihnachtsfest sollte doch schön sein und gemütlich. Sie versuchte ihren Wunsch zu unterdrücken und fing sogar an, die Argumente der Eltern zu übernehmen. Aber wie oft sie auch probierte, sich diese als vernünftig anzueignen, blieb in ihrem Innern das Verlangen bestehen. Sie konnte sich mit den Gegebenheiten nun mal nicht abfinden.

Die Weihnachtstage kamen und die Festlichkeiten liefen in den seit Jahren eingeübten Bahnen ab. Die Eltern hatten sich alle Mühe gegeben, das Fest für Paula angenehm zu gestalten und sie mit einigen Geschenken glücklich zu machen. Es gab viele Süßigkeiten und einen Farbkasten mit Pinseln und Malpapier, ein kleines Portemonnaie mit etwas Geld, ein Kleid für ihre Puppe und ein Kalender mit Fotos von Lokomotiven. Es gab leckeres Essen und sie durfte lange aufbleiben. Was die Eltern aber falsch eingeschätzt hatten, war die Wirkung des Kalenders. Während die Eltern davon ausgegangen waren, dass der ein kleiner Trost darstellte für den unerfüllten Wunsch nach einer Eisenbahn, verursachte er bei Paula einen seelischen Schmerz. Sie wurde wieder mit der Aussichtslosigkeit ihres Verlangens konfrontiert und konnte diesen gut gemeinten Ersatz nicht positiv schätzen. Der Versuch, trotzdem Freude vorzutäuschen, gelang ihr nicht gut genug, um die Mutter zu beruhigen. Die schaute ihre Tochter etwas zu lange an, was von Paula sofort registriert wurde. Beide fühlten sich ertappt.

Es gelang den Eltern trotz dieser Unstimmigkeit die Feiertage harmonisch zu gestalten. Paula spielte mit den neuen Sachen und malte einige Bilder mit den Wasserfarben. Das war eine neue Erfahrung. Sie freute sich an die bunten Farben, mit denen sie jetzt ihre Bilder kolorieren konnte. Der obligatorische Besuch bei ihrem Onkel und der Tante sorgte für eine weitere Ablenkung. Inzwischen war ihre Enttäuschung über die fehlende Eisenbahn so weit unter Kontrolle, dass sie die Frage nach den Geschenken ohne Zögern beantworten konnte. Von ihnen bekam sie noch mehr Süßigkeiten und einige kleine Überraschungen.

Im neuen Jahr geriet der Gedanke an eine Eisenbahn in den Hintergrund. Mit ihren Freundinnen spielte sie die typischen „Mädchenspiele“, wie Seilspringen, Himmel und Hölle, Stelzenlaufen und Hula-Hoop. Da die anderen Mädchen kein Interesse an eine elektrische Eisenbahn hatten, wurde das Thema nicht erörtert. Auch das machte Paula deutlich, dass ihr Wunsch sich nicht mit dem typischen Rollenbild eines Mädchens deckte. Und so geschah es, dass dieser innige Wunsch an Dringlichkeit verlor. In den folgenden Jahren flachte das Verlangen ab. Als sie älter wurde, traten andere Interessen an die Stelle. Sie und ihre Freundinnen fingen an, sich für Jungen zu interessieren. Am Ende der Schulzeit kam die Frage auf welchen Beruf sie anstreben sollte. Sie war noch völlig unschlüssig und schwankte zwischen einer Lehre und einem Studium. Letztendlich konnte sie sich dazu durchringen, den langen Weg eines Architekturstudiums einzuschlagen, wohl wissend, dass das nicht den üblichen Erwartungen entsprach. Sie sollte allerdings nicht zu Ende studieren. Ihr Leben nahm, nachdem sie heiratete, die allgemein übliche Wendung. Zeitlebens blieb jedoch die Erinnerung an ihren Kindheitstraum, eine Eisenbahn zu besitzen bestehen.

In lockerer Reihenfolge werde ich hier über meine Aktivitäten Auskunft geben, Texte, Gedichte, Sprüche und Bilder veröffentlichen, die neben den Beiträgen auf meiner Homepage den aktuellen Stand meiner Tätigkeiten wiederspiegeln.

Ich hoffe, die Beiträge machen neugierig auf mehr.